Einmal pro Woche fahre ich mit der U-Bahn zur Endstation im Shanghaier Westen. Dort liegt das chaotische Dorf Zhudi oder zumindest seine schrumpfenden Überreste.
Von Xujing Dong ans Ziel zu kommen, ist gar nicht so leicht. Entweder verstehen die Taxifahrer meinen Zielort nicht (Stichwort Feng-bang-hua-häh???) oder sie wollen mich nicht dorthin bringen. Denn der Weg führt durch Zhudi – und das schreckt einige Fahrer ab. »Kenn ich nicht«, reden sie sich dann raus oder direkter: »Da fahr‘ ich nicht durch!« Und so muss ich ein Taxi nach dem anderen ziehen lassen.
乱七八糟! – luàn qī bā zāo!
Heute morgen habe ich Glück. Gleich das erste Taxi will mich mitnehmen. Wir rasen die breite staubige Straße entlang. Bei Rot geht es im Eiltempo über die große Kreuzung mit den sichteinschränkenden Brückenpfeilern; dann weichen wir in Schlangenlinien den riesigen Schlaglöchern aus. Eine scharfe Kurve später liege ich quer über die Rückbank verteilt, meine Handtasche irgendwo unter den Vordersitzen. Zhudi ist auch schon in Sicht.
Das Dorf ist kaum mehr als eine Ansammlung kleiner Häuser und Barracken, die sich um ein fragwürdiges Sträßchen gruppieren. An dessen Ende stehen zwei zerbröselte Betonpfeiler, um Raserei zu vermeiden. Die schmale Brücke, über die Autos, Roller, Fahrräder, Fußgänger und Tiere gleichzeitig wollen, provoziert regelmäßig Stau. Kein Wunder, dass das den Tempojunkies hinterm Taxisteuer nicht gefällt.
Auch die paar hundert Meter durch Zhudi werden zur Slalomfahrt im Schneckentempo. In Zhudi spielt sich das ganze Leben nämlich auf der engen Straße ab. Zwar hat man den täglichen Markt inzwischen von der Hauptstraße auf einen abgetrennten Platz verlagert, doch das Chaos ist geblieben. Die Besitzer nutzen schließlich auch den Platz vor ihren Geschäften und Werkstätten. Da liegen dann Rohre und Werkzeug kreuz und quer über den Boden verstreut, überall stehen Roller, Fahrräder oder deren verrostete Überreste.
Der Friseur hängt seine frisch gewaschenen Handtücher an die Straße, auf einem Dreirad wird ein Huhn geschlachtet. Nebenan reißen sie gerade ein Haus ab und bauen es neu auf, am Straßenrand stapeln sich verwohnte Möbel. Die kann man kaufen – genauso wie die zu Pyramiden aufgeschichteten Wasserkanister, die Matratzen oder die Mahjongg-Steine in prallen Mülltüten. Dazwischen kauern Bauern und breiten ihre Plastiksäcke mit selbstgezogenem Gemüse aus. Schnell verhindert ihre Kundschaft jegliches Durchkommen.
»Luàn qī bā zāo!«, fluchen hier viele Taxifahrer. »Was für ein Chaos!«
»Da will ein Auto vorbei? Uns doch egal. Wir brauchen Sellerie!«
PS: Auf den Bildern ist gar nicht mal viel los. Offensichtlich sind schon viele fürs Frühlingsfest in ihre Heimat gefahren.
Das ist mein Beitrag zum Fotoprojekt »Magic Letters« von Paleica. Das Thema war C – Chaos. Wollt ihr auch mitmachen? Dann schaut für genauere Informationen bei Paleica vorbei (Klick aufs Logo).
Herrlich! Liebe Grüße Ulrike
Danke, ich hatte ja auf noch mehr Chaos gehofft, aber heute morgen waren viele „Chaosstifter“ wohl schon auf der Heimreise 😉
Großartig! Ein wirklich toller Einblick!
Für Blogs wie Deinen liebe ich das Internet. Ich kann mitm Kaffee vorm Rechner sitzen und bekomme einen unverfälschten Einblick, wie es in einem chinesischen Dorf aussieht aus erster Hand. Vielen Dank dafür!
Das Thema hast Du natürlich auch großartig getroffen!
Oh … wow … vielen Dank für die lieben Worte! (jetzt werd ich gleich rot …) 🙂
Verdient!
Dem schließe ich mich an – ich find’s auch klasse!
Da hast Du aber einen klaren Vorteil im Gegensatz zu anderen Teilnehmern 😉 Chaos und China passt ja schon irgendwie… nicht zu vergleichen mit meiner Heimat auf dem Land 😉
VG Markus
Ja, okay. Bei Chaos habe ich vielleicht einen „Heimvorteil“, aber warte, bis es zu O wie Ordnung kommt, dann stehe ich da … 😉
😄
das sieht wirklich nach purem chaos aus – besonders untermalt mit deinen erzählungen 🙂 und was machst du so in zhudi?
Ich fahr da nur durch. Muss manchmal da in der Nähe geschäftlich hin. Ich glaube, niemand kommt nach Zhudi, um da „was zu machen“. Entweder wohnt man da oder man fährt durch 😀
Chaotisches Dorf, das klingt schon mal gut. :-))) Und Deine Erzählung passt ausgezeichnet dazu. Chaos gibt es sicherlich überall in irgendeiner Weise, das dort scheint aber schon eine Besonderheit zu sein. Schön, die Vielschichtigkeit des Landes kennenzulernen.
Herzliche Grüße, Eberhard
Ja, Chaos gibt es überall. Die Straße in dem Dorf ist halt sehr eng, da entsteht das Chaos schon von selbst 😉
Dort sieht es wirklich sehr chaotisch aus – schön auch deine Beschreibungen dazu, so kann man sich das Chaos noch besser vorstellen 😉
LG, Netty
Danke 🙂
Tatsächlich, jede Menge Chaos zeigst du.
Klasse Aufnahmen.
Liebe Grüße aus Deutschland
Bärbel
Danke 🙂
Wunderbare Fotos, treffender könnte man Chaos nicht darstellen. China ist da auch wirklich perfekt dafür 🙂 beeindruckend wie trotzdem so manch einer in dem hektischen Chaos die Ruhe weg hat.
LG Soni
Für die Leute hier ist das Chaos ja ganz normal. Die lassen sich davon wirklich nicht stören. Nur die Taxifahrer halten das nicht aus 😀
Hallo 🙂
Ich lese schon eine Weile mit und finde deinen Blog klasse. Und gerade dieser Beitrag zum Buchstaben C ist mal wieder einer, der ein tolles Beispiel ist warum ich ich bei jedem Neuen hier gucken komme. 🙂
Viele Grüße, Melanie
Vielen Dank für das Lob. Hoffentlich enttäusche ich dich auch in Zukunft nicht 😀
Wunderbar. Trotzdem scheint das Leben dort einen gewohnten, wenn auch chaotischen, Gang zu gehen.
LG Thomas
Typisches chinesisches Alltagschaos, würde ich sagen 😉
Hui, ja, echt chaotisch!
Schön und interessant bei dir zu stöbern 🙂
Dankeschön 🙂
Ich hab grad so arg Mitleid mit dem armen Huhn, das sein Leben auf einem Dreirad lassen musste. Was da wohl auf dem Grabstein stehen würde? Etwas in der Art von „Drei Räder haben gereicht um mich platt zu machen…“ 😉
Durch deine Beschreibung werden die Bilder noch lebendiger. Gefällt mir 🙂
Grüße
Lucy
Dankeschön 🙂
Das ist ein schönes Chaos. In der Stadt bedeutet das ja immer Lebendigkeit. Köln wird ja auch nachgesagt, dass es hier oft mal sehr chaotisch sei (natürlich kein Vergleich zu Deinem gezeigten Beispiel ;-)), aber das macht für mich eine Stadt erst sympathisch! Zu geordnet ist mir zu langweilig. Es muss immer etwas los sein 🙂
Viele Grüße
Sarah
Das finde ich auch. Ein bisschen Chaos macht Orte erst interessant. Ich glaube nicht, dass ich inzwischen noch mal begeistert in München leben könnte, einfach viel zu ordentlich und langweilig dort 😉
Hallo Shaoshi,
ich kann nur DANKE sagen für diesen Einblick in ein Land im Umbruch, gell. Hier treffen alt und neu so unverfälscht und brutal aufeinander, da kann es nur immer wieder Chaos geben. Dein Bericht, mit den dazugehörigen Schnappschüssen, versetzt einen sofort mitten hinein. Ist das spannend!!!!
Liebe Grüße
moni
Gerne 🙂 Ja, Chaos ist hier an der Tagesordnung!
Wunderbar – Irgendwie steht der asiatische Raum für mich schon allein als Inbegriff des Chaos…
Beste Grüße
Heike @Björklunda
Stimmt. Wahrscheinlich gibt es in Asien Länder, die noch viel chaotischer als China sind. Vietnam ist das in meiner Vorstellung zum Beispiel …
Die Bilder sind klasse und sprechen für sich. Man kann sich das Gewühl richtig vorstellen!
Danke, dabei ist da normalerweise noch viel mehr los …