Wasserdorf Jinxi – Ein 2000 Jahre alter Geheimtipp

Jinxi, China

Ist es mal wieder an der Zeit, Shanghai für einen Tagesausflug zu verlassen? Dann kommt mit nach Jinxi – ein 2000 Jahre altes Wasserdorf in Shanghais Nachbarprovinz Jiangsu, das noch als Geheimtipp gilt. Wie lange die Zeit hier wohl noch stillsteht?

锦溪古镇 (jǐnxī gǔzhèn) – Die Altstadt von Jinxi

„Zum Scherenschleifer hier entlang“, wurde alle paar Meter an die bröckelnden Wände gepinselt. Ist er so was wie das Highlight im Dorf? Für die Touristen steht das jedenfalls nicht da. Die verirren sich nämlich so gut wie gar nicht in die Seitengassen von Jinxi.

Tatsächlich haben wir das Wasserdorf fast ganz für uns allein, sobald wir die wuseligen Hauptgassen hinter uns gelassen haben. Für Autos sind die meisten Wege zu eng. Aber auch andere Fahrzeuge sind rar, schließlich ist kaum jemand unterwegs. Einzige Geräuschkulisse ist das charakteristische Rascheln, das beim Mischen von Mahjong-Steinen entsteht. Klack-klack-klack dringt es aus erstaunlich vielen Häuschen; Mauern werden behende aufgebaut und routiniert wieder abgetragen. Klack-klack-klack werden die Steinchen reihum aufgenommen, neu sortiert, abgelegt. Wieder mischen. Wortlos.

Jinxis Altstadt gibt sich überraschend bäuerlich. Vor den Häusern, an den Ufern der Kanäle, manchmal direkt über unseren Köpfen wächst Gemüse, genauso unaufgeregt wie die Katzen, die in vielen Geschäften ein Schläfchen halten.

Wenn wir an Einheimischen vorbeigehen, beäugen sie uns neugierig. Schließlich sind wir Fremde, ich dazu noch ein Ausländer – übrigens der einzige, den ich (und vielleicht auch sie) an diesem Tag in Jinxi zu sehen bekomme. Komisch, dabei liegt Jinxi gar nicht so abgelegen. Es liegt sogar nur wenige Busstationen von Zhouzhuang, Chinas Wasserdorf Nummer 1 entfernt.

Jinxi, China

Sehenswertes in Jinxi

Jinxi ist unter Chinesen keinesfalls unbekannt. Das Wasserdorf ist eben nur nicht so beliebt, weil es nicht so groß ist wie sein Nachbar Zhouzhuang, bis jetzt kaum renoviert wurde und insgesamt mehr auf das Leben der Bewohner zugeschnitten ist. Dabei zahlt man für den größten Teil der Altstadt Eintritt und muss natürlich nicht auf Souvenirstände und Fressbuden verzichten.

Auffällig viele Antiquitätenhändler haben sich an den Hauptgassen niedergelassen, in deren Läden sich verstaubte Mao-Figuren zusammen mit alten Dachziegeln, Mühlensteinen oder aus der Mode gekommenem Haushaltsgerät türmen. Vermutlich sind das die Überreste der Familien, die das Dorf inzwischen verlassen haben. In den umliegenden Großstädten gibt es schließlich bessere Arbeitschancen als hier.

Die vermutlich wertvolleren „Dachbodenfunde“ werden nun in zahlreichen winzigen Museen ausgestellt, die im Eintrittspreis des Dorfes enthalten sind. Da gibt es antike Möbel zu bewundern, deren Arrangement eher an ein liebloses Möbelhaus erinnert, oder ein kreuz und quer in staubige Vitrinen gestopftes Sammelsurium an Nippes, deutschen Uhren und Geschirr. Kalligrafien hängen schief im Rahmen hinter eingeschlagener und Klebeband-geflickter Scheibe und irgendwo zwischen Suppenschüssel und Buddhafigur findet sich auch mal ein rostiges Schwert. Da wundert mich diese Geschichte überhaupt nicht mehr:

Neben einem Teekannen-Museum scheint eine andere (viel gepriesene) Ausstellung ganz besonders wichtig zu sein: Chinas erstes Ziegelsteinmuseum! Dort kann man dann wortwörtlich graue Ziegelsteine hinter Glas bewundern. Jede Baustelle dürfte aufregender sein. Dafür können wir uns sehr für das Häuschen begeistern, in dem die Steine ausgestellt sind. Wenn das uns gehören würde! Schöner ist nur das Häuschen (金石人家, „Gold Stone Family“), in dem eine Siegelausstellung zu finden ist. Der winzige Hof mit Privatbrunnen! Das dunkle Holz! Die knarzende Treppe! Der Blick über schwarzgedeckte Dächer!

Weitere Highlights von Jinxi sind der Lotusteich-Tempel (mit völlig eingestaubten Heiligenfiguren) und das Grab der kaiserlichen Konkubine Chen. Letzteres liegt leider auf einer Insel und kann nur von Weitem betrachtet werden. Beim Kulturrevolutionsmuseum hätte mich interessiert, wie man mit der Thematik umgeht, aber wir finden den Eingang nicht.

Jinxi, China
莲池禅院 – Lotusteich-Tempel

Für einige Besucher scheine dagegen ich das Highlight zu sein. Ständig umgibt mich Getuschel. „Laowai“, „Waiguoren“, „Ist das eine Amerikanerin?“, Leute, die sich umdrehen. „Mama, Mama, ein Ausländer!“, ruft ein kleines Mädchen und wird richtig aggressiv, als ihre Mutter nicht auf ihr Geschrei reagiert. Sie zerrt an ihrem Arm und quengelt: „Mama, schau endlich, da ist ein Ausländer!“ Und die Mutter geistesabwesend: „Ja, ja, das brauchen wir nicht …“

Geheimtipp Jinxi

„Die Zukunft liegt in deiner Hand“, steht an der bunten Mauer der dichtgemachten Dorfgrundschule. Wie diese Zukunft wohl aussieht? Schon jetzt leben hauptsächlich noch alte Leute in der Altstadt von Jinxi. Was, wenn die nicht mehr da sind? Werden die Häuschen dann auch bis zur Künstlichkeit renoviert, mit hippen Bars und Cafés bestückt und in noch mehr Geschäften noch mehr Plastikkram für die Touristen verkauft? Als Freilichtmuseum zählt das Wasserdorf ja bereits. 65 RMB Eintritt ist das momentan wert.

Und der Scherenschleifer? Der wird wohl irgendwann auch nicht mehr da sein – und wenn, dann wohl nur noch als Touristenattraktion wie der dauergrinsende Kormoranfischer, der sich am Eingang mit seinen Vögeln in einem Boot fotografieren lässt.

Jinxi, China
„Die Zukunft liegt dir zu Füßen, die Zukunft liegt in deiner Hand.“

Fazit

Jinxi lohnt sich. Wir waren an einem Feiertag da und selbst da hielt sich die Besucherzahl überraschend in Grenzen. Abseits der Hauptgassen war das Dorf quasi menschenleer.

Diverse Internetseiten schlagen übrigens vor, Zhouzhuang und Jinxi an einem Tag in einem Aufwasch zu machen. Das empfehle ich nicht. Wo bleibt denn da die Exklusivität? Schließlich sind sich all diese Wasserdörfer doch ein bisschen ähnlich. Obwohl Jinxi nicht so groß ist, kann man hier viele Stunden verbringen. Man kann es ja auch mal ruhiger und langsamer angehen lassen, oder? Also, hingehen, solange Jinxi noch als Geheimtipp gilt.

PS: Die Brücke vom Titelbild ist die Zehn-Augen-lange Brücke (十眼长桥) aus der Ming-Dynastie (1368-1644). Sie gilt als Wahrzeichen von Jinxi.

Was meint ihr? Sind chinesische Wasserdörfer immer wieder eine Reise wert? Oder: kennt man eins, kennt man alle?

Jinxi, China
Zum Scherenschleifer

Infos

锦溪古镇 | Jinxi, Jiangsu (ca. 50 km südlich von Shanghai)
Eintritt: 65 RMB/Person
Webseite: chinajinxi.com.cn
Anfahrt: Unsere Möglichkeit: Mit der U-Bahn (Linie 11) bis zur Endstation Huaqiao. Von dort fahren Linienbusse ab. Wer keine Lust hat, eine Dreiviertelstunde in einem völlig überfüllten Bus zu stehen, kann auch mit dem Taxi weiter (Preis: ca. 100-120 RMB).

Zum Mitnehmen:

Pin: Jinxi, ein unbekanntes Wasserdorf

18 Gedanken zu “Wasserdorf Jinxi – Ein 2000 Jahre alter Geheimtipp

  1. Allein von den Fotos her würde ich schon sagen, dass diese Ortschaften einen Besuch wert sind, Deine Beschreibung tut ein Übriges. Interessant, dass Du selbst zu einer Attraktion in Jinxi geworden bist. :-)))
    Herzliche Grüße, Eberhard

    1. Als Europäer (Weißer) bist du in China immer eine Attraktion. Die Großstadtbevölkerung im Osten Chinas dreht sich vielleicht nicht mehr nach dir um, aber sobald du eine Touristenattraktion besuchst, sind dort auch viele chinesische Besucher, die zum Teil aus Gegenden Chinas kommen, wo eben so gut wie keine Ausländer herumlaufen. Das sind dann deine treuesten „Fans“.

      1. Ja, da muss ich dir Recht geben. Als Ausländer ist man immer die Attraktion (und das kann einem sogar noch in Shanghai abseits der Sehenswürdigkeiten passieren. Mein pensionierter Nachbar freut sich z.B. jedes Mal, wenn er mich sieht, begrüßt mich 10x überschwänglich mit „Laowai, Laowai“, hält mir die Türen auf und möchte mit mir plaudern ;-)).

        Mich hat es nur überrascht, dass es in Jinxi so extrem war. Ich dachte, durch die Nähe zu Shanghai wäre man da eher an Ausländer gewöhnt (und wer von weiter kommt, würde eher ins berühmtere Zhouzhuang fahren). So kann man sich irren …

  2. Ich war bisher nur in Zhujiajiao, das war ganz ok, aber extrem voll mit Touristen.

    Vermutlich ist das wie mit den Tempeln: kennste einen, kennste alle. 😉

    Aber so eine entspannte Stadt kann man immer mal besuchen, alleine um die Ruhe und Abgeschiedenheit zu genießen. Das findet man in den Großstädten ja selten.

    Daher würde ich sagen, solange es noch nicht von den Massen überrannt wird, ist es ein guter Ort, um zu relaxen.

    Kommt direkt auf meine Liste, danke für den Tipp!

    1. Zhujiajiao habe ich auch ziemlich überlaufen in Erinnerung. Trotzdem finde ich die Dörfer immer wieder ganz nett, aber eben wohldosiert. Weil, wie du sagst: Kennt man eins, kennt man alle 😉

  3. Je mehr ich bei Dir lese, desto länger wird meine Must-See-Liste für Shanghai und Umgebung. Mich hat Shanghai bislang nicht sehr angesprochen. Doch Du und Dein Blog machen mich sehr neugierig auf all das, was ich noch nicht gesehen habe.
    Liebe Grüße
    Ulrike

    1. Im Vergleich zu Peking hat Shanghai natürlich nicht so viel zu bieten, aber es gibt eben auch nette Ecken und gerade in der Umgebung gibt es relativ viele entspannte Perlen.

  4. China steht zwar nicht unbedingt auf meiner Must-See Reiseliste, aber dieser Ort sieht sehr idyllisch und friedvoll aus. Wenn es noch mehr solcher Orte in China gibt, muss ich mir es vielleicht doch nochmal anders überlegen. 😉
    Danke für diesen kleinen Ausflug in die Ferne. 🙂

  5. Haha, bei meinem Peking-Besuch im Zuge meiner Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn mussten mein Freund und ich (beide groß, blond und blauäugig) nur zu oft erleben, dass wir selbst und nicht die eigentlichen Sehenswürdigkeiten die Attraktion waren. In Deinem Fall ist es natürlich nochmal interessanter, da Du ja auch verstehen kannst was die Leute über Dich sagen. Leider wurde es auf Dauer auch etwas anstrengend. Die Leute standen sogar in Schlangen um ein Foto mit uns zu machen, alle 2 Minuten drückte sich ein anderer verschwitzer Körper an uns (wir hatten 40 Grad) und wir wurden teilweise sogar mitten im Gespräch auseinander gerissen und 20 Meter voneinander weggeschleppt um Fotos zu machen.
    Peking war mir auf Dauer etwas zu anstrengend, Jinxi klingt aber nach einem zauberhaften und nicht so überlaufenen Ort, den ich gerne einmal besuchen würde.
    Liebe Grüße aus Holland,
    Kerstin

    1. Haha, ihr hättet Geld verlangen sollen, pro Foto 10 RMB oder so 😉

      Ich falle zum Glück nicht ganz so auf, habe hier durchschnittliche Größe und dunkle Haare. Ein Highlight ist das manchmal trotzdem.

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