Xisi-Hutong – Von adeliger Gemächlichkeit in Peking

Hutongs, Peking, China

Bei einem Besuch in Peking gehört ein Spaziergang durch die Hutongs, also die traditionellen Wohnviertel, einfach dazu. Auch wir lassen uns die alten Gassen nicht nehmen und besuchen die ruhigen Xisi-Hutongs westlich der Verbotenen Stadt. Auf einen Spaziergang durch ebendiese möchte ich euch nun mitnehmen.

西四胡同 – Xisi-Hutong

Ein bisschen bin ich enttäuscht. Sind das wirklich dieselben Gassen, die Ulrike vom Bambooblog bereits 2009 besucht und so bunt beschrieben hat?

Es ist jetzt 2015, ein warmer Herbstnachmittag, und das Pendel der Zeit schwingt unbarmherzig weiter. Die Türen zu den Innenhöfen der traditionellen Häuschen sind fast alle geschlossen. Keine Spur von fliegenden Händlern; wir sehen keinen Markt und erst recht keinen Fäkaliensammler. Stattdessen: überall Autos. Bei vielen lehnen Platten an den Reifen, damit die Hunde nicht dranpinkeln können. Diese Kuriosität kann ich schon in Shanghai nicht ernst nehmen, in Peking sind die Platten allgegenwärtig. Die Tuhao-Dichte muss hier ziemlich hoch sein, mutmaßen wir.

Fahrräder gibt es natürlich auch noch, aber erschreckend viele liegen total verrostet, demontiert und mit verbogenen Reifen in den Ecken. Die wurden auf dem Weg in die Moderne wohl aussortiert.

胡同 (hú tòng) – Hutong

Als die Mongolen die Yuan-Dynastie gründeten (1271-1368), brachten sie eines ihrer Wörter mit nach Peking. Hottog. Das bedeutet „Quelle“ und bezeichnet die für Peking typischen Gassen, die traditionell von Wohnhäusern mit Innenhof gebildet werden und um die Verbotene Stadt angeordnet sind. Hutong nennen die Chinesen diese Gassen bzw. Wohnviertel und unter diesem Namen kennt man sie auch in Deutschland.

Bis ins letzte Jahrhundert hinein explodierte die Anzahl der Hutongs auf über 6000 in ganz Peking. Kein Wunder also, dass man die Hauptstadt bis heute mit den traditionellen Gassen in Verbindung bringt. Allzu viele sind davon aber gar nicht mehr übrig. Gerade mal 20% der Einwohner sollen noch in Hutongs leben, habe ich neulich irgendwo gelesen.

Eine repräsentative Lebensform sind die Gassen mit den alten Häuschen also längst nicht mehr. Und das ist leider auch verständlich: Der Komfort dort lässt zu wünschen übrig. In den Wohnhäusern gibt es normalerweise keine Toiletten, die Bauweise der Häuser ist primitiv, die Gassen bieten kaum Platz für Autos.

Auch in den Xisi-Hutongs, wo einstmals Adelige und reiche Familien in schmucken Anwesen wohnten, lebte man ab den 1950er Jahren auf engstem Raum miteinander in den Gebäuden. Die Folge: verwohnte, um- und angebaute Häuschen, äußerlich inzwischen zwar oft renoviert, aber zeitgemäß ist das nicht.

Heute ziehen viele Chinesen lieber in moderne Wohnsilos und verstehen nicht, was Westler an den rückständigen Hutongs so sehenswert finden (hier gibt’s einen interessanten Text dazu: Ein Hutong in Peking, zwei Meinungen ). „Schon gut, dass wir in ein Hochhaus umgesiedelt wurden“, sagte mir auch mal ein Freund aus Peking, der seine Kindheit in einem Hutong verbracht hat.

Auch Herr M. könnte gut auf einen Nachmittag in den Xisi-Hutongs verzichten, versteht nicht, warum ich hier unbedingt spazieren gehen möchte. Als er merkt, dass unser gewähltes Viertel tatsächlich Geschichte aufzuweisen hat, studiert er dann doch interessiert jede Steintafel, in die ein Abriss der Vergangenheit gemeißelt ist.

Xisi, Hutong, Peking, China

Adelige Gemächlichkeit

Die Geschichte der Xisi-Hutongs ist noch spürbar, wenn man genau hinsieht. Hier und da finden wir noch einige prachtvolle Tore der Adeligen, mal verwittert, mal liebevoll restauriert. Für die Touristen. Herr M. und ich scheinen allerdings die einzigen zu sein, die an den Steintafeln stehen bleiben, um zu erfahren, welche berühmten Politiker, Prinzen und Künstler hier einmal gewohnt haben. Einige Nachfahren der Adeligen sollen sogar noch genau hier wohnen, aber vom Prunk der Kaiserzeit ist nicht viel geblieben. Das Leben hier scheint einfach, beschaulich. Wäsche flattert zum Trocknen im Wind, irgendjemand lässt einen Schwarm Tauben fliegen, Kinder rennen lachend aus einer Grundschule mit langer Geschichte.

Die Xisi-Hutongs sind fest in der Hand der Alten, die ihrem beschaulichen Leben nachgehen. Vereinzelt hocken sie auf winzigen Stühlen in den Gassen, genießen die Herbstsonne und würdigen uns kaum eines Blickes. Das lässige Verhalten der Anwohner hat auch auf die Katzen abgefärbt. Größer und fetter als die in Shanghai hocken sie vor den Türen, reagieren kein bisschen, wenn man sie lockt. Und wenn sie keine Lust auf Streicheleinheiten haben, schleppen sie sich so betont langsam weg, als wäre jeder einzelne Schritt zu viel.

„Typisch Pekinger“, greift Herr M. ein bekanntes chinesisches Vorurteil auf. „Die sind alle so faul und wollen sich nur ein schönes Leben machen. Die in Shanghai lachen immer über die Leute in Peking. Und die Leute hier lachen über die Shanghaier, die nur dem Geld hinterherjagen.“

„Und die Nanjinger?“, frage ich.

„Liegen irgendwo dazwischen.“

Xisi, Hutong, Peking, China

Die acht Gassen und ihre Highlights

Die Highlights der Gassen Nr. 1-8 in aller Kürze – die Steintafeln vor Ort beschränken sich auf Chinesisch:

1. 西四北头条: Hier wohnte bis 1776 (Qing-Dynastie) der berühmte Qing-Minister He Shen, der den Palast des Prinzen Kung (Bericht folgt) gebaut hat.

2. 西四北二条: Kaiser Wuzong baute hier in der Ming-Dynastie für sich ein „Generalsministerium“.

3. 西四北三条: 1617 wurde hier ein Tempel gebaut. Außerdem war die Gasse für ihre Gärten und einige berühmte Bewohner bekannt. Heute ist sie eine reine Wohnstraße.

4. 西四北四条: 1883 (Qing-Dynastie) wurde hier eine Schule gegründet, die bis heute existiert.

5. 西四北五条: In der Ming-Dynastie wohnten hier besonders viele Hebammen, weshalb die Gasse auch als „Hebammen-Hutong“ bekannt war. Außerdem hatten hier Politiker und später eine Filmuniversität ihren Sitz.

6. 西四北六条: Die Gasse ist bekannt für ihre „Kunst-Kaserne“ und den ehemaligen Wohnsitzen von Malern und Journalisten.

7. 西四北七条: In der Ming-Dynastie lebte hier ein recht unbekannter Prinz.

8. 西四北八条: Hier wohnten früher viele Prinzen und Adelige. Viele Nachfahren wohnen heute noch immer dort.

Fazit

Sind die Xisi-Hutongs sehenswert? Nun ja, ganz ähnlich sieht die Gasse, die zu unserem Compound hier in Shanghai gehört, auch aus (nur nicht so übertrieben renoviert, dafür immer kurz vor dem Abriss). Wenn man aber frisch aus Europa einfliegt, ist die Faszination sicher größer. Gut ist eben, dass man hier ganz in Ruhe schlendern kann und nicht von Touristenmassen durch die Gassen geschoben wird. Außer Anwohnern verirren sich nämlich ziemlich wenige Leute hierher. Also, ja, würde ich Besuchern von weit her auf jeden Fall empfehlen!

Habt ihr schon mal einen Spaziergang durch ein Hutong gemacht? Wie hat es euch gefallen?

Infos

Die Xisi-Hutongs liegen im westlichen Teil der Stadt (西城区) und sind direkt von der U-Bahn-Station Xisi (西四), Linie 4, zu erreichen. Die Hutongs auf den Bildern liegen nördlich der U-Bahnstation. Aber auch südlich davon finden sich ruhige Gassen, wo es auch ganz gute und billige Restaurants gibt.

Xicheng-Hutongs, Peking
Blaue Fläche: Hutongs; rotes Kreuz: Guangji-Tempel; rot unterstrichen: U-Bahnstation Xisi; blaues Kreuz: hier sind weitere Hutongs, hier haben wir auch zu Mittag gegessen

12 Gedanken zu “Xisi-Hutong – Von adeliger Gemächlichkeit in Peking

  1. Lustig, dass es diese Städte-Feindschaften scheinbar in allen Ländern und Kulturen gibt.
    Und eine Frage: Was machen die Autofahrer mit den bepinkelten Platten? Legen sie sie in den Kofferraum bis zur nächsten Benutzung??? 😷😋

  2. Hallo,
    jetzt weiss ich endlich wozu diese Platten an den Rädern stehen. Habe sie in Beijing schon so oft gesehen.
    Das mit den Hutongs ist wirklich „zwiespältig“. Als Fremder meint man sie schützenswert, weil sie die ursprüngliche Lebensweise zeigt. Doch so wie du es sagst. Es ist sehr primitiv gewesen. Einige (viele) Hutongs werden renoviert und sind danach Luxushutongs. Bei Jonghegong (Lamatempel) oder südlich von Qianmen gibt es dies oder einen Mix davon. Bei U-Bahnstation Xisi bzw. Ping’anli stehen noch ältere Hutongs.
    Lg Thomas

    1. Auch die Chinesen finden die Hutongs scheinbar schützenswert, sonst würden sie ja keine renovieren 😉 Aber vermutlich ist das hauptsächlich für den Tourismus?

      Als Außenstehender sieht man die Situation vielleicht zu romantisch. Ich finde die alten Häuschen und engen Gassen ja auch gefälliger als Hochhauscompounds mit Mauer drum rum. Und dass sich Touristen lieber die alten Viertel als die 0815-Neubausiedlungen ansehen wollen, spricht ja auch eine klare Sprache.

      Aber wenn die Wohnungen nicht an die Kanalisation angeschlossen sind, die Zimmer winzig sind und die Wände baufällig sind, verstehe ich schon, warum man da nicht wohnen möchte. Wahrscheinlich ist es wirklich am einfachsten, die alten Sachen abzureißen und was Neues hinzubauen. Nur schade, dass das Neue dann hauptsächlich so ein gesichtsloser Mist ist und sämtliches Flair flöten geht.

      Natürlich ist es gut, wenn man wenigstens ein paar Hutongs restauriert/neu aufbaut, aber schade, dass das dann, wie du auch sagst, immer gleich Luxus sein muss, oder eben eine Touristenmeile. Normale Leute haben da doch kaum noch eine Chance – mal oberflächlich gesprochen – in schönen Stadtteilen zu leben.

      Hmm, immer wieder ein schwieriges Thema mit chinesischen Städten …

  3. Ein sehr schöner Bericht. Ich war vor einigen Jahren zweimal in Peking und einmal in Xian. Ich erinnere mich noch gut wie beeindruckt ich damals von der Stadt war. Bei meiner zweiten Reise nach Peking haben wir die drei Wochen bei chinesischen Freunden gelebt. Wir sind auch in ein Hutgong Viertel gegangen, weil es gleich neben dem Wohnviertel unserer Freunde lag. Ich fand die Menschen dort unheimlich freundlich. Sie haben uns eingeladen und uns ganz stolz ihre Wohnung gezeigt. Dort haben zwei Familien auf kleinstem Raum gewohnt, gekocht wurde im Hof. Und nebenan stand dieses teure Wohnviertel, eingezäunt und mit Wärtern. Von unserem Schlafzimmerfenster konnte man auf die Hutgongs gucken. Das war schon irgendwie eigenartig.
    Ein paar Tage danach waren wir in einem ganz anderen Hutgong Viertel. Dort gab es ganz viele kleine Cafés, Kunsthandwerker, Geschäfte etc. Ich weiß leider nicht mehr wie es heißt, aber schön war es. :D.

    1. Meinst du vielleicht die Hutongs am Houhai? Da gab es auch viele Cafés usw. Das Viertel fand ich an sich auch schön, aber sehr überlaufen und zu sehr auf Touristen zugeschnitten.

      Ja, es ist schon komisch manchmal mit diesen krassen Gegensätzen direkt nebeneinander. Ob es „eure“ Hutongs wohl noch gibt?

  4. Ach, sehr schön! Hab ich natürlich gleich verlinkt! Der Markt ist westlich hinter dem Tempel der Monarchie. Das muss ich bei mir wohl noch genauer beschreiben. Beste Grüße – Ulrike

  5. Ein toller Bericht, der nochmal die Hintergründe erklärt. Spannend. Wir haben im letzten Sommer 2 Wochen in einem Hutong zwischen Xihai und Houhia Lake gewohnt, mittendrin. Ich fand es als Fotograf ziemlich spannend, gerade weil es viele Motive gab, in die Hochhaussiedlungen mit ihren Pförtnern kommt man ja nicht rein. Aber natürlich verklären das die westlichen Touristen ziemlich, die Lebensbedingungen sind wirklich einfach. Wo sich die Touristen und Fotografen über die öffentlichen Toilettenhäuser alle 50m freuen, wird schnell klar das für die Bewohner diese Notwendigkeit sind. Und das auch im Winter bei Eis und Schnee. Wir waren in einem zu einem Abendessen und hatten Gelegenheit mit den Menschen dort zu reden. Die Regierung hatte ihnen bereits Geld angeboten um in die äußeren Ringe zu ziehen, es war aber zu wenig. Sie konnten es sich aber aussuchen und blieben ersteinmal.
    Es war aber klar: Wenn genug Geld geboten wird für den 5. oder 6. Ring, dann gehen sie. Zentralheizung, fließendes Wasser, U-Bahn.
    Ähnlich ist es bei uns ja in den Großstädten auch. Luxussanierung, die alt-eingesessenen Leute müssen raus. In Peking hilft die Stadt vielleicht etwas mehr mit Zwang nach.
    Liebe Grüße
    Jörg

    1. Jetzt habe ich schon von mehreren Fotografen gehört, dass man in die bewachten Hochhaussiedlungen nicht/nur schwer reinkommt. Würden die denn wirklich so viele Motive liefern? Ich wüsste gar nicht, was ich da fotografieren soll 😉

      Die Toilettenhäuser haben mich irgendwie besonders, hmm, schockiert. Ich dachte irgendwie, dass das mehr so Überbleibsel von früher sind, aber ist scheinbar immer noch so, dass die wenigsten Wohnhäuser an die Kanalisation angeschlossen sind …

      Stimmt, in deutschen Städten ist das mit der Luxussanierung auch oft so, hatte ich jetzt gar nicht so im Blick …

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