Der Blick aus meinem Fenster …

Adelina von Mädchen-Poesie will alles über unsere Fenster wissen. Ich habe unser Schlafzimmerfenster gewählt und wollte mich eigentlich kurz fassen – aber vor unserem Fenster ist einfach zu viel los! Und ich werde dem nicht müde; auch nicht nach anderthalb Jahren China. Trotzdem schlafen wir manchmal lieber in unserem anderen Zimmer.

Gegenüber sitzt wieder die alte Frau vor dem Hauseingang auf ihrem Stühlchen und beobachtet die kleine Straße, die niemals schläft. Wahrscheinlich ist auch sie von dem frühmorgendlichen Radau zwischen unseren Häusern geweckt worden. Unser Sträßchen ist eigentlich eine Einbahnstraße. Das hindert aber niemanden daran, trotzdem aus beiden Richtungen in die Straße zu biegen. Deshalb gibt es morgens, wenn die Berufstätigen mit ihren Autos in die Arbeit fahren und die LKWs Ware anliefern wollen, oft Stau. Dann wird gehupt wie verrückt, während sich Fahrräder, Fußgänger und Mopeds lässig durch die Lücken schlängeln. Es sei denn, es handelt sich um übervollgepackte Elektroroller (Lieferanten, Postboten), die mit ihrem sperrigen Gepäck nicht durch die Zwischenräume passen. Dann stehen auch sie hupend mittendrin im Chaos aus Mensch und rostiger Technik. Nicht so schön, wenn das morgens um sieben passiert, wenn man den einzigen freien Tag der Woche hat und eigentlich ausschlafen möchte. Den LKW-Fahrern ist das jedoch egal. Schließlich sind sie schon seit Stunden auf den Beinen, um ihre Melonen an die vielen Obstgeschäfte vorn an der Ecke zu liefern.

Direkt gegenüber steht das Geschäft, das Räucherstäbchen und anderes Zubehör, das man im Todesfall eines Angehörigen braucht, verkauft. Ich bin mir nicht ganz sicher, wie sich der Laden halten kann, denn ich sehe niemals Kundschaft und nur 100 Meter weiter wird das gleiche Zeug verkauft. Trotzdem kommen die Besitzer jeden Morgen mit ihrem Elektroroller und hocken sich brav in den Laden, um bis spät in die Nacht auf dem Computer Serien zu schauen. Manchmal schlafen sie vor Instantnudeln und dem Monitor ein, weshalb der Laden gelegentlich noch um Mitternacht geöffnet ist.

Inzwischen ist es später Vormittag, die Sonne knallt in die Häuserkluft. Man ist in Shorts, Badelatschen oder luftigen Schlafanzügen unterwegs. Im Schatten des exotischen Ladens hockt eine junge Familie (Vater, Mutter, Baby, halbwüchsiger Chow-Chow mit einer Mark und Bein durchdringenden Kläfferstimme) und macht nichts. Manchmal bekommen sie Gesellschaft von anderen. Dann machen sie gemeinsam nichts oder sehen Nachbarn beim Wäscheaufhängen zu.

Gegen Mittag verschwindet die alte Frau im Haus. Dann versammeln sich andere alte Frauen vor dem Hauseingang, um auf dem Boden Bohnen fürs Mittagessen zu puhlen. Im Gebüsch hockt eine Katze und miaut laut, bevor sie sich traut, über die Straße zu flitzen. Es ist die rotgetigerte Katze, die sich erst vor ein paar Nächten mit dem schönen schwarzen Kater vor unserem Fenster gepaart hat. Wenn die Junge bekommt, entführe ich eins!

Nach Mittagessen und Mittagsschlaf setzt sich die alte Frau wieder vor das Haus. Manchmal bekommt sie Gesellschaft von einem alten Mann auf Krücken. Dann reden sie gemeinsam oder werfen ein paar Blicke auf die komische Ausländerin, die schon wieder am Fenster steht und auf die Straße glotzt. Gegenüber stapelt jemand Bauschutt in ausgefransten Reissäcken am Straßenrand. Ein Müllsammler fährt auf seinem Dreirad vorbei und läutet seine Glocke. Unsere Wäsche wiegt sich im Takt der frischen Brise. Der Soundtrack des Nachmittags sind Handy-Klingeltöne und die Kinderlieder aus den Fahrzeugschaukeln, die es in Deutschland oft in Supermärkten gibt (Alibaba übersetzt sie sehr anschaulich als »Kindmitfahrer-Spielmaschine«). In China stehen sie vor den Geschäften direkt auf der Straße. Vor unserem Fenster sind es vier an der Zahl. Besonders beliebt ist der coole Panzer in Metallic-Bordeaux, der neben »Frère Jacques« auf Chinesisch mit blechernem Geballere den Lärmpegel in die Höhe treiben kann.

Abends zieht sich die alte Frau wieder ins Haus zurück. Das Leben draußen geht trotzdem weiter. Die Besitzer der Geschäfte in unserem Wohnblock kochen direkt auf der Straße. Es brutzelt in ihren uralten Woks, der Geruch von leckerem Essen zieht durch unser Fenster. Später üben sich die Nachbarn von gegenüber wieder im Akkordeonspiel. Die Geschäfte werden geschlossen, die Wäsche am Straßenrand wieder hereingeholt. Die Sonne geht früh unter in Shanghai; auch im Sommer ist es spätestens um sieben Uhr dunkel. Viele Straßenbeleuchtungen gibt es in unserem Sträßchen nicht. Vermutlich deshalb ist die Straße auch nicht Teil des Nachtmarkts, der gerade vorn an der Kreuzung mit Obstläden, Grillständen, Raubkopierhändlern und Schmuck- und Kleidungsständen boomt. Einzig ein altes Männlein hockt vor unserem Haus und verkauft Schreibwarenartikel direkt auf dem Boden. Wenn auch er seine Sachen gepackt hat, die letzten Nachtmarkthändler auf ihren quietschenden Dreirädern an unserem Fenster vorbei nach Hause gefahren sind, kehrt Ruhe ein – zumindest bis der alte Mann mit seinem Schoßhund vorbeikommt und inbrünstig ein altes chinesisches Lied schmettert. Dann klingeln zwei junge Männer gegenüber. Die verträumte Melodie der Türklingel weht durch unser Fenster, dann das laute Knacken der Gegensprechanlage hinterher: »Wei?« – »Mach auf!« – »Wei? Wei?« – »Mach auf!« – »Aufmachen?« – »Jetzt mach schon auf!« Sie lachen. Dann endlich können sie die quietschende Gittertür öffnen. Jeden Abend ein ähnliches Ritual.

Nachts um eins schüttet jemand sein Brauchwasser des vergangenen Tages mit einem beherzten »wuuusch« auf die Straße. Eine städtische Angestellte kehrt klirrende Scherben zusammen. Zwei Katzen kämpfen lautstark um die Vorherrschaft im Viertel. Weiter vorn steht ein Polizeiauto. Ich kann es nicht sehen, aber das Rot-Blau-Stakkato, das an die Häuserwände geworfen wird, verrät es. Das bunte Farbenspiel vermischt sich mit dem Flackern eines Feuers, denn irgendjemand verbrennt gerade etwas, das nicht sonderlich umweltverträglich riecht. Dann laufen zwei betrunkene Typen an unserem Fenster vorbei, grölen ein chinesisches Lied, überlegen es sich dann anders und wechseln in die »dan«-Stimme (die von Männern gesungenen Frauenstimmen in der Pekingoper). Sie haben eine Mordsgaudi, nachts um halb drei.

Zuletzt bekommen wir Besuch von einer Straßenkatze. Sie springt auf die Klimaanlage unter unserem Fenster, klettert durch das Fenstergitter, hinterlässt Fell an unserer zum Trocknen aufgehängten Kleidung und wirft einen Kaktus um. Ich kann ihren Schatten hinter dem hässlichen senfgelben Vorhang sehen, wie sie innehält, kurz an einer Socke schnuppert. Dann traut sich die Katze in unser Schlafzimmer, wo sie Pfotenabdrücke auf unserer Kommode hinterlässt, ehe sie wieder geht. Offensichtlich ist es vor dem Fenster interessanter als bei uns. Recht hat sie.

5 Gedanken zu “Der Blick aus meinem Fenster …

  1. hi deine Beiträge sind wirklich interessant =) vor allem weil ich in zwei Monaten auch nach Shanghai komme (auch für längere Zeit). Vielleicht darf ich mich mal bei dir melden?

    1. Hallo, freut mich, dass dir mein Blog gefällt und viel Spaß in Shanghai!
      Klar darfst du dich melden. Ich bin schon auf deine Eindrücke gespannt 🙂

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